Construction des savoirs en ligne et mythe des 'digital natives' (ORF, Autriche, 7 avril 2014)

Dans l’émission scientifique de la ORF (radiotélédiffusion autrichienne), la journaliste Marlene Nowotny accueille Antonio Casilli, maître de conférences à Télécom ParisTech et chercheur associé à l’EHESS pour parler de construction des savoirs à l’heure d’Internet, science et mythe des “digital natives”. Deux émissions ( 1 ) ( 2) et une interview pour aller plus loin.

http://science.orf.at/stories/1736438/

“Digital Natives sind ein Mythos”

Viele gesellschaftliche Diskussionen über neue Technologien werden aus ideologischen Motiven geführt, ist der Soziologe Antonio Casilli überzeugt. Radikale Umbrüche – allen voran in der Wissensproduktion – gibt es demnach nicht. Genauso wenig wie die Generationenkluft zwischen alten und jungen Internetnutzern.

Kategorie: Internet Erstellt am 07.04.2014.

Der Zugang zu Wissen war noch nie so einfach wie heute. Das Internet hat die Anzahl der medialen Informationskanäle und die Möglichkeiten zur Partizipation vervielfältigt. Doch diese Demokratisierung des Wissens birgt auch Gefahren: Traditionelle Institutionen der Wissensproduktionen verlieren scheinbar an Bedeutung, und eine Spaltung der Gesellschaft in eine Generation von “Digital Natives” und digitalen Immigranten wird befürchtet.

Der Soziologe Antonio Casilli vom Institut des sciences et technologies de Paris (ParisTech) widerspricht diesen Gegenwartsdiagnosen. Bei der internationalen Tagung “Die Zerstörung des Wissens” am Institut für die Wissenschaften vom Menschen stellte er seine Thesen zu den technologischen Umbrüchen vor.

science.ORF.at: Viele beschreiben die Veränderungen, die das Internet in punkto Informationsbeschaffung bzw. Informationsbereitstellung mit sich gebracht hat, als Demokratisierung. Können sie diesem Befund etwas abgewinnen?

Antonio Casilli: Natürlich haben sich durch das Internet die Informationskanäle vervielfältigt. Es geht nicht mehr ausschließlich um den Zugang, es geht darum, dass mehr Leute mehr qualitativ hochwertige Information zur Verfügung stellen können. Demokratisierung bedeutet also, die richtigen Werkzeuge in die Hände der richtigen Leute zu bekommen. Und Technologien können uns dabei helfen.

Antonio Casilli, Soziologe, Professor für Digital Humanities, ParisTechParisTech

Antonio A. Casilli ist Professor für Digital Humanities am französischen Forschungsinstitut ParisTech und Forschungsmitarbeiter am Centre Edgar Morin.

Inwieweit hat sich generell die Definition von “Wissen” verändert? Es sind nicht mehr unbedingt die traditionellen Institutionen wie Universitäten, die Wissen produzieren …

Die Rolle solcher wissensproduzierenden Institutionen ist natürlich problematisch. Jedes Mal wenn eine historische Phase von der nächsten abgelöst wird, fühlen sich die althergebrachten Institutionen bedroht – vom neuen sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Gleichgewicht. Und die gegenwärtigen Veränderungen passieren noch dazu vor dem Hintergrund einer Krise.

Einige Institutionen, die Wissen an die Gesellschaft vermittelt haben, verlieren ihren Stellenwert. Und an ihre Position treten neue. Deswegen gibt es aber noch lange keinen Wildwuchs in der Wissensproduktion. Ein Beispiel ist Wikipedia: Die Online-Enzyklopädie ist ein bahnbrechendes Projekt, das jedem ermöglicht, Wissen zu erzeugen und einer großen Öffentlichkeit online zur Verfügung zu stellen. Natürlich fühlen sich viele Experten davon bedroht.

In der Realität handelt es sich aber nicht um eine Enzyklopädie, wo jeder eine Stimme haben kann. Wikipedia hat zahlreiche Kooperationen mit vielen Universitäten und Forschungsinstituten, die für das Projekt sehr wichtig sind. In diesem Fall gibt es also mehr Linearität zwischen alten und neuen Wissensinstitutionen als Auseinanderdriften.

Kann man dann überhaupt von bahnbrechenden, alles umwälzenden Technologien sprechen?

Diese Idee muss man insgesamt hinterfragen. Oft handelt es sich ausschließlich um ideologische Diskurse, die mit den tatsächlichen Veränderungen nicht viel zu tun haben.

Ö1 Sendungshinweis:

Mit diesem Thema befasst sich auch ein Beitrag in Wissen Aktuell, am 7. April um 13.55Uhr.

Sie haben eingangs gesagt, dass eine Demokratisierung des Wissens nicht nur Zugang sondern auch Teilhabe bedeutet, allen voran für diejenigen, die qualitativ hochwertige Informationen produzieren. Die Theorie der “Digital Natives” geht jedoch davon aus, dass bestimmte Generationen prinzipiell ausgeschlossen sind.

Dieses Konzept der “Digital Natives”, der Eingeborenen des Informationszeitalters, entstand Anfang der 2000er Jahre. Es ging dabei eigentlich um Schulbildung und wie das “neue” Klassenzimmer aussehen sollte für eine Generation, die vollständig mit Computer, Internet, Tablets etc. aufgewachsen ist.

Aus wissenschaftlicher Sicht konnte dieses Konzept nie bestätigt werden. Jedes Mal wenn Soziologen zu diesem Thema Daten erhoben haben, wurde die Theorie der “Digital Natives” in Frage gestellt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alterskohorte sagt nichts über die digitalen Fähigkeiten aus. In älteren Generationen gibt es genauso viele Experten wie Uninformierte unter den vermeintlich digitalen Eingeborenen. Diese junge Generation ist extrem heterogen. Ich würde sagen, bei den “Digital Natives” handelt es sich um einen Mythos, der sich nun schon sehr lange hält.

Die “digitale Kluft” gibt es also nicht?

Doch, die gibt es. Aber die Spaltung unserer Gesellschaft in “digitale Gewinner” und “digitale Verlierer” vollzieht sich nicht entlang eines Geburtsjahres. Das Konzept der “Digital Natives” wurde eingeführt, um zu verschleiern, dass viele Menschen rein aus sozioökonomischen Gründen keinen Zugang zu Technologie und in Folge schlechten Zugang zu Bildung und Informationen haben. Und das Konzept hat auch einen Vorteil für die Wirtschaft: Die vermeintlich digitale Generation stellt einen hervorragenden Absatzmarkt dar. Das voll digital ausgestattete “neue” Klassenzimmer ist nur ein Beispiel dafür.

Andere “klassische” Institutionen der Wissens- bzw. Informationsproduktion sind die Medien – Print, Hörfunk und Fernsehen. Auch hier fühlen sich viele bedroht von Online-Angeboten, allen voran durch soziale Medien wie Twitter oder Facebook. Ist diese Angst berechtigt?

Hier geht es nicht so sehr um die Informationsproduktion selbst. Nehmen wir den Blickwinkel von Nutzern sozialer Medien ein: Aus ihrer Sicht sind die althergebrachten Medien Autoritäten. Sie sind dazu eingeladen, diese Autorität in Anspruch zu nehmen, aber nur sehr eingeschränkt auch in Frage zu stellen.

Das ist das Widersprüchliche an den Medien heute: Einerseits wollen die Medien Kommentare und Teilhabe stimulieren, aber nur bis zu dem Punkt, wo die Nutzer den Autoritätsstatus der Medien in Frage stellen. Die alten Medien sind scheinheilig: Sie sehen sich selbst zwar als demokratische Einrichtungen, aber eigentlich wollen sie sich nicht verändern oder herausgefordert werden.

Wenn wir uns also die Beziehung von neuen und alten Medien von diesem Gesichtspunkt aus ansehen, dann ändert sich die Perspektive: Es geht um ehrliche Teilhabe und Respekt für die Beiträge, die die Öffentlichkeit beizusteuern hat. Die traditionellen Medien haben hier großen Nachholbedarf.

Eine weiterer dieser Gegenwartsdiagnosen beschreibt eine Entpolitisierung der Gesellschaft. Führt das nicht auch zu einem Desinteresse an althergebrachten Informationsmedien?

Die politische Teilhabe nimmt meiner Meinung nach nicht ab. Die Menschen, die Blogs betreiben, in Foren oder in sozialen Netzwerken aktiv sind, haben meist eine ausgeprägte Meinung, gerade zu politischen Dingen. Und oft nutzen gerade politische Parteien oder Bewegungen soziale Medien, um ihre Ansichten zu verbreiten.

Politische Ideen oder Bedürfnisse werden in sozialen Medien oft anders formuliert, als wir das gewöhnt sind. Das wird dann oft als Entpolitisierung beschrieben. Es gibt neue Wege, Veränderungen für die Gesellschaft, neue Gesetze oder ähnliches zu verlangen, und die alten Medien und Politik erkennen das oft nicht. Das Repertoire des politischen Engagements hat sich einfach vervielfacht.

Im Zusammenhang mit Wissensproduktion und Digitalisierung stellt sich auch immer wieder die Frage nach dem Besitz geistigen Eigentums. Müssen traditionelle Institutionen die Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit der Vervielfältigung im Netz nicht als Bedrohung wahrnehmen?

Hier gibt es sicher ein Problem, was den Besitz und die Produktion von Wissen betrifft. Traditionellerweise haben Intellektuelle, Experten, Universitätsprofessoren usw. Wissen produziert und besessen. Ihre Rolle hat sich verändert. Sie sind heute dazu eingeladen, diesen Prozess der Wissensbildung zu überwachen. Aber die Akteure dahinter sind andere Leute, aus der Wirtschaft, den Medien oder der Öffentlichkeit. Und in den nächsten Jahren wird selbst diese Supervisionsfunktion in Frage gestellt werden. Denn so viele Beobachter werden nicht gebraucht.